Worte taugen mehr als Bilder

 

    Warten

        von Walter Ineichen

 

    

 

    Wenn gar nichts passiert, dann steht die Zeit still,

    du wartest und wartest, weil sie es so will.

    Du bist ganz allein, und es wird dir sehr bange,

    du wartest und wartest und fragst dich: Wie lange?

 

    Du schaust auf die Uhr, und die lacht dich nur an:

    “Was soll deine Eile, du stürmischer Mann?

    Ich zeig‘ dir die Zeit, ich zeig‘ nicht die Eile.

    Ich rate dir gerne: Eile mit Weile.“

 

    Du stehst vor  ‘ner Ampel, und die zeigt dir rot,

    was nützt da dein Fluchen, du Vollidiot?

    Hab‘ doch Geduld, und sei mal schön still,

    die Ampel zeigt grün, sobald sie es will.

 

    Die Mutter des Wartens ist die Geduld

    und hast du sie nicht, bist du selbst daran schuld.

    Nur sie kann das Leiden des Wartens besiegen,

    vielleicht macht sie dir es sogar zum Vergnügen.

 

    Du hast dich vor Wochen unsterblich verliebt

    in die schönste der Frauen, die ‘s auf der Welt gibt.

    Du hast sie nicht gestern, nicht heute gesehen,

    du stellst dir die Frage, ist ihr was geschehen?

    Sie lässt dich lieb grüssen: “Ich bin bald bei dir“.

    Das “Bald“ lässt dich hoffen, und doch wird‘s dir bange

    du hoffst und du wartest und fragst dich: Wie lange?

 

    Warten und hoffen gehören zusammen.

    Dein Warten hat sich mit der Hoffnung gepaart,

    es möge dein Wunsch sich doch endlich erfüllen,

    den du gehegt hast schon Tage im Stillen.

 

    Von Freude und Sehnsucht wirst du beseelt,

    die Freude beglückt dich, die Sehnsucht sie quält.

    Uebe Geduld, und bleib‘ Optimist

    denke daran, dass auch sie dich vermisst.

 

    Die Leiden des Wartens die musst du zuweilen

    im Bunde mit anderen Wartenden teilen.

    Du stehst in der Mitte ‘ner Schlange,

    du wartest und denkst: geht denn das hier noch lange,

    was soll das Gedränge, 

    was soll das Gezwänge,

    zum Teufel, was will denn der Kerl hinter mir?

    Bedenke, der Kerl denkt das selbe von dir.

 

    Dein Blick schweift hinüber zur anderen Schlange,

    du siehst deine Chance, dort drüben zu stehen,

    dein Warten, das würde dann weniger lange.

    So tu‘s doch, und gleich wirst du sehen,

    du hast nichts gewonnen, 

    dein Traum ist zerronnen,

    der Drängler von vorher war schneller als du

    er winkt nun von Ferne gar hämisch dir zu.

 

    Und soll mal das Warten dir unendlich scheinen,

    fange doch bitte nicht gleich an zu weinen. 

    Als ganz kluger Warter solltest du nun

    versuchen, mal etwas dazwischen zu tun.

    Und so geht die Qualwarterei 

    so schnell wie im Fluge vorbei. 

 

    Am Ende des Wartens bist du nun am Ziel.

    Ist‘s dir geschehen so wie du‘s erhofftest,

    hat sich‘s gelohnt, oder war‘s bloss ein Spiel?

    Hat sich dein Wunsch mit viel Freude erfüllt?

 

    Es wär‘ dir zu gönnen, du stürmischer Mann,

    der du gelernt hast, was warten sein kann.

 

    Wenn‘s gar nichts zu warten mehr gibt,

    das du ja so fleissig geübt,

    dann bist du am Ende des Lebens

    so ist auch dein Warten vergebens.

    * * * * * 

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